UNTERRICHT
 
Viele – selbst andere Musiker – können sich nicht wirklich vorstellen, was im Gesangsunterricht gemacht wird. Ist Singen überhaupt ein "richtiges Instrument", das man erlernen kann? Ist es nicht primär Begabungssache, ob wir singen können oder nicht?

Die Atmung: Der Mensch als Blasinstrument

Die Stimme gehört eigentlich zur Gattung der Blasinstrumente. Bei diesen wird laut Lexikon der Ton dadurch erzeugt, dass eine in einem Hohlraum eingeschlossene Luftsäule durch Anblasen in Schwingung versetzt wird (dies geschieht auch beim Sprechen, Stöhnen und Gähnen, und darum ist jeder Mensch ein Instrument, ob er will oder nicht). Im Gesangsunterricht wird daher viel Wert auf das Erlernen einer guten Atemtechnik gelegt. Die Schülerinnen und Schüler sollen die Geschwindigkeit ihres Ausatems kontrollieren können sowie möglichst rasch, mühelos und tief einatmen können. Dies zu trainieren hat positive Nebenwirkungen: Herz und Kreislauf werden angeregt, das Lungenvolumen steigt, die ganze Rumpfmuskulatur wird gedehnt und gekräftigt, was auch die Haltung verbessert, ja sogar seelische Spannungen können sich lösen.

Der Kehlkopf: Funktionen und schlummernde Fähigkeiten

Im Zentrum der sängerischen Arbeit steht der Kehlkopf, denn in ihm entsteht der Ton. Die Stimmbänder schließen und öffnen sich immer wieder mit hoher Frequenz und erzeugen dadurch die hörbare Schwingung in der vorhin zitierten Luftsäule. Höher oder tiefer wird der Ton, indem die Stimmbänder mit Hilfe von bestimmten Knorpeln und Muskeln gedehnt oder verkürzt werden. Auch die Klangfarbe, z.B. wie hart oder weich ein Ton klingt, wird zum Teil im Kehlkopf erzeugt. Jeder angehende Sänger muss also lernen, die vielen winzigen Kehlkopfmuskeln zu koordinieren, zu kräftigen oder zu entspannen. Leider ist das nicht so einfach wie bei gewöhnlichem Krafttraining, denn diese Muskeln sind von außen nicht sichtbar und ihre Funktionen kaum bewusst beeinflussbar. Es muss daher indirekt gearbeitet werden, über das Gehör, das Resonanzgefühl, die Atmung, den Text, oder durch Suggestionen in Form von Bildern oder Bewegungen, um das gewünschte Ergebnis im Kehlkopf zu erreichen. Der Kehlkopf ist übrigens für unsere Sprechtätigkeit im Alltag deutlich überentwickelt! Die Stimme hatte beim Steinzeitmenschen höchstwahrscheinlich den Zweck, die Kommunikation über grosse Distanzen hinweg zu ermöglichen. Unser Kehlkopf ist also prädestiniert für das laute Rufen auf vielen verschiedenen Tonhöhen sowie das längere Halten einer bestimmten Tonhöhe (nichts anderes ist Singen). Als Neugeborene haben wir unsere Stimme quer durch alle Lagen und Lautstärken trainiert, bevor wir uns aus kulturellen Gründen einschränken lernten. Die meisten Menschen – auch Sie! – verfügen also im Hals über ein ungeahntes Potenzial, welches wiederzuentdecken ein Gefühl von tiefer Zufriedenheit geben kann. Gerade erwachsene Anfänger sind oft überwältigt vom unbekannten, schönen und vollen Klang ihrer eigenen Singstimme, die sie mit Hilfe einer Gesangslehrperson und durch motiviertes Üben hervorlocken.

Der Text: Von der Artikulation zu den großen Gefühlen

Die Stimme ist also ein „richtiges Instrument“, sowohl was die Tonerzeugung betrifft, als auch vom Zeit- und Arbeitsaufwand her. Der vielleicht wesentlichste Unterschied zwischen dem Gesang und allen anderen Instrumenten ist allerdings, dass Sänger mit einem Text arbeiten. Dieser füllt das Lied oder die Arie mit einer konkreten Aussage, die an die Zuhörer weitergegeben wird. Eine wesentliche Aufgabe des Gesangsunterrichtes ist es, diesen Bedeutungstransport zu optimieren: Die Artikulation soll den Sänger nicht anstrengen, und dennoch soll der Text für Zuhörer verständlich sein und zudem ganz natürlich klingen. Dies alles erreicht man durch das Trainieren der Sprechwerkzeuge oberhalb des Kehlkopfes. Kiefer, Zunge, Gaumen, Wangen und Lippen formen Vokale und Konsonanten. Die entsprechenden Muskeln müssen dabei unabhängig arbeiten und je nach Schüler gekräftigt, gedehnt oder entspannt werden. Dies kann durch technische Übungen geschehen, oder auch direkt in der Arbeit am Text. Die Texte handeln – ob in Klassik, in Jazz, in Volksliedern oder im Pop – meistens von den großen, archetypischen Gefühlen, die wir in unserem Kulturkreis eher selten unkontrolliert zeigen dürfen. Im Lied, in der Arie dürfen wir dagegen alles: zittern vor Liebe, jubeln vor Freude, heulen vor Trauer, kochen vor Wut. Beim Singen werden also wie beim Schauspielen Gefühle in einem geschützten Rahmen trainiert und abrufbar gemacht, was einen positiven Einfluss auf das wirkliche Leben der Sänger haben kann.

Warum Singen glücklich macht

Das Singen ist eigentlich sehr kompliziert und vielseitig fordernd. Die Koordination von Atmung, Kehlkopffunktionen, Sprechwerkzeug und Gefühlen verlangt höchste Konzentration. Dazu kommen noch musikalische Parameter wie Rhythmus, Phrasierung oder Dynamik. Warum macht Singen dann so Spaß? Einige Gründe wurden vorhin schon erwähnt: Singen kann körperliche und seelische Spannungen lösen, Erfolgserlebnisse schaffen und den Zugang zu den eigenen Gefühlen wecken. Es gibt aber auch weitere Gründe: Erstens hat man während dem Singen keine Zeit, an etwas anderes zu denken. Dadurch wird der Alltagsstress komplett ausgeblendet, wodurch in einer hektischen oder unbefriedigenden Woche eine Art „Erholungsinsel“ entsteht. Zweitens erleben Sänger in diesem Zustand der höchsten Konzentration paradoxerweise immer wieder, dass der Kopf scheinbar leer wird und das Singen wie von alleine passiert, als ob man selbst zum Instrument geworden sei und gespielt würde. Das Unbewusste übernimmt, und das Bewusstsein lässt geschehen. Zu diesem „Einklang mit sich selbst“ füge man noch den „Einklang mit den anderen Sängern / Musikern“ und den „Einklang mit der Musik“ hinzu, und man versteht, warum Singen glücklich macht!

Alexandra Hebart

(Dieser Text erschien im Dezember 2009 in der Bildungszeitschrift "klick!" in Zug. Die Vervielfältigung oder Verbreitung - auch auszugsweise - bedarf der schriftlichen Genehmigung durch die Autorin.)